Ein paar Anregungen dazu:
Kulturelle und glaubenstechnische Ursachen
Der philosophische Ansatz von Alexandre Kojève (alle folgenden Zitate aus "Alexandre Kojève, Hegel, München 1999/2000"):
„Wir wissen ja alle, daß der Mensch, der aufmerksam ein Ding betrachtet, der es sehen will, wie es ist, ohne etwas daran zu ändern, durch dieses Betrachten, d. h. von diesem Ding, ‚absorbiert’ wird, wie man zu sagen pflegt. Er vergißt sich, er denkt nur an das betrachtete Ding; er denkt weder an sein Betrachten noch – ja noch weniger – an sich, an sein Selbst. Er ist um so weniger seiner selbst bewußt, als er des Dinges bewußt ist. Er kann vielleicht von dem Ding sprechen, aber er spricht niemals von sich selbst: in seiner Rede kommt das Wort ‚ich’ nicht vor“
„Das Auftauchen dieses Wortes setzt also noch etwas anderes voraus als das rein passive Betrachten, das das Sein nur offenbar macht. Dies andere ist nach Hegel die Begierde, von der er zu Beginn des Kapitels IV [der Phänomenologie des Geistes] spricht. Wenn der Mensch Begierde empfindet – z. B. wenn er Hunger hat und essen will und wenn er dessen bewußt wird –, wird er nämlich zwangsläufig seiner selbst bewußt. Die Begierde offenbaren sich immer als meine Begierde, und um die Begierde zu offenbaren, muß man sich des Wortes ‚ich’bedienen. Der Mensch mag noch so sehr von der Betrachtung des Dinges ‚absorbiert’ werden – sobald die Begierde nach diesem Dinge entsteht, wird er augenblicklich ‚an sich selbst erinnert’. Mit einem Schlage sieht er, daß es außer dem Ding auch noch sein Betrachten gibt, daß es noch ihn gibt, der nicht dieses Ding ist. Und das Ding erscheint ihm als ein ‚Objekt’, ein Gegen-stand, eine äußere Wirklichkeit, die nicht in ihm ist, die nicht er ist, sondern ein Nicht-Ich“
„Also nicht das rein erkennende und passive Verhalten liegt dem Selbstbewußtsein, d. h. der wahrhaft menschlichen Existenz [...] zugrunde, sondern die Begierde. (Darum ist, nebenbei bemerkt, menschliche Existenz nur da möglich, wo es ein gewisses Etwas gibt, das man Leben nennt – biologisches, animalisches Leben. Denn es gibt keine Begierde ohne Leben.)“
„Was ist nun die Begierde (man braucht nur an die ‚Hunger’ genannte Begierde zu denken) anders als das Begehren, das betrachtete Ding durch eine Tat zu verwandeln, in seinem Dasein (das ohne Bezug zu dem meinen, unabhängig von mir ist) aufzuheben, es in dieser seiner Unabhängigkeit zu negieren, und mir zu assimilieren, zu dem meinen zu machen, in meinem und durch mein Ich zu absorbieren? Die Existenz von Selbstbewußtsein und somit Philosophie setzt also im Menschen nicht nur ein positives, passives, das Sein nur offenbar machendes Betrachten voraus, sondern auch noch eine das Daseiende verwandelnde Tat. Das menschliche Selbst muß ein Selbst der Begierde sein, d. h. ein aktives Selbst, ein negierendes Selbst, ein Selbst, das sein Sein verwandelt, das ein neues Seiendes schafft, indem es das Daseiende zerstört“
„Was anders ist nun aber das Selbst der Begierde (das Selbst des hungrigen Menschen zum Beispiel) als ein nach Inhalt lechzendes Leeres, ein Ich, das sich anfüllen will durch das, was voll ist, sich anfüllen will, indem es dieses Volle leert, sich (wenn es erst einmal angefüllt ist) an die Stelle dieses Vollen setzen will, durch sein Volles das Leere einnehmen will, welches durch die Aufhebung des Vollen entstanden ist, das nicht das seine war?“
„Die animalische Begierde (z. B. der Hunger) und das sich daraus ergebende Tun negieren, zerstören das natürliche Daseiende. Indem das Tier es negiert, es verändert, es sich zu eigen macht, erhebt es sich über dieses Daseiende. Dadurch, daß das Tier die Pflanze frißt, verwirklicht und offenbart es nach Hegel seine Überlegenheit über sie. Aber dadurch, daß das Tier sich von Pflanzen ernährt, ist es von ihnen abhängig, und so gelingt es ihm nicht, wirklich über sie hinauszugehen. Allgemein gesagt: das lechzende Leere (oder das Selbst), das sich in der biologischen Begierde offenbart, füllt sich durch das aus ihm hervorgehende biologische Tun nur mit einem natürlichen, biologischen Inhalt an. Das Selbst oder das Pseudo-Selbst, das durch die aktive Befriedigung dieser Begierde realisiert wird, ist darum ganz genau so natürlich, biologisch, materiell wie das, worauf sich die Begierde und das Tun bezieht. Das Tier erhebt sich über die in seiner tierischen, animalischen Begierde negierte Natur nur, um durch die Befriedigung dieser Begierde sofort in sie zurückzufallen. So gelangt das Tier nur zum Selbst-Gefühl, aber nicht zum Selbst-Bewußtsein“
„Die Existenz von Selbstbewußtsein und Philosophie setzt Transzendenz seiner selbst in bezug auf sich selbst als Daseiendes voraus. Und das ist nach Hegel nur dann möglich, wenn die Begierde sich nicht auf ein Daseiendes bezieht, sondern auf ein Nichtseiendes. Das Daseiende begehren heißt, sich mit diesem Daseienden anfüllen, heißt, sich in ihm unterwerfen. Das Nichtseiende begehren heißt, sich vom Daseienden befreien, heißt, seine Autonomie, seine Freiheit erringen. Die Begierde muß, um anthropogen zu sein, sich auf ein Nichtseiendes beziehen, d. h. auf eine andere Begierde, auf ein anderes lechzendes Leeres, auf ein anderes Selbst. Denn die Begierde ist Abwesenheit von Seiendem (Hunger haben heißt, der Nahrung ermangeln): ein Nichts, das im Sein nichtet, und sein Sein, das da ist [...]. Um menschlich zu sein, muß der Mensch darauf ausgehen, sich nicht ein Ding zu unterwerfen, sondern eine andere Begierde (nach dem Dinge). Dem Menschen, der menschlich ein Ding begehrt, ist es nicht so sehr um das Ding zu tun, als vielmehr um die Anerkennung seines [...] Rechtes auf dieses Ding, um seine Anerkennung als Besitzer des Dinges [...]. Nur die Begierde nach einer solchen Anerkennung, nur das aus einer solchen Begierde sich ergebende Tun schafft, verwirklicht und offenbart ein menschliches, nicht-biologisches Selbst“