Religion und Gewalt

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Daimao_Koopa
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Religion und Gewalt

Beitrag von Daimao_Koopa »

Das nahezu untrennbar verbundene Auftreten von Religion und Gewalt ist nach wie vor eines der aktuellsten und am längstem diskutierten Themen überhaupt. Wo immer man Religion in jeder nur erdenklichen Form vorfindet, ist die Bereitschaft der Menschen, die diesen Religionen angehören, Gewalttaten zu begehen nicht fern. Doch woran liegt das? Was treibt die Menschen dazu sich gegenseitig zu ermorden, nur um die Interessen ihrer eigenen Religion durchzusetzen? Plädieren die Anhänger der etablierten Religionen nicht immer für eine Abneigung gegen Gewalt? Es muss demnach einen verborgenen Zusammenhang zwischen Religion und dem Auftreten von Gewalt geben.

Ein paar Anregungen dazu:

Kulturelle und glaubenstechnische Ursachen

Der philosophische Ansatz von Alexandre Kojève (alle folgenden Zitate aus "Alexandre Kojève, Hegel, München 1999/2000"):
„Wir wissen ja alle, daß der Mensch, der aufmerksam ein Ding betrachtet, der es sehen will, wie es ist, ohne etwas daran zu ändern, durch dieses Betrachten, d. h. von diesem Ding, ‚absorbiert’ wird, wie man zu sagen pflegt. Er vergißt sich, er denkt nur an das betrachtete Ding; er denkt weder an sein Betrachten noch – ja noch weniger – an sich, an sein Selbst. Er ist um so weniger seiner selbst bewußt, als er des Dinges bewußt ist. Er kann vielleicht von dem Ding sprechen, aber er spricht niemals von sich selbst: in seiner Rede kommt das Wort ‚ich’ nicht vor“
„Das Auftauchen dieses Wortes setzt also noch etwas anderes voraus als das rein passive Betrachten, das das Sein nur offenbar macht. Dies andere ist nach Hegel die Begierde, von der er zu Beginn des Kapitels IV [der Phänomenologie des Geistes] spricht. Wenn der Mensch Begierde empfindet – z. B. wenn er Hunger hat und essen will und wenn er dessen bewußt wird –, wird er nämlich zwangsläufig seiner selbst bewußt. Die Begierde offenbaren sich immer als meine Begierde, und um die Begierde zu offenbaren, muß man sich des Wortes ‚ich’bedienen. Der Mensch mag noch so sehr von der Betrachtung des Dinges ‚absorbiert’ werden – sobald die Begierde nach diesem Dinge entsteht, wird er augenblicklich ‚an sich selbst erinnert’. Mit einem Schlage sieht er, daß es außer dem Ding auch noch sein Betrachten gibt, daß es noch ihn gibt, der nicht dieses Ding ist. Und das Ding erscheint ihm als ein ‚Objekt’, ein Gegen-stand, eine äußere Wirklichkeit, die nicht in ihm ist, die nicht er ist, sondern ein Nicht-Ich“
„Also nicht das rein erkennende und passive Verhalten liegt dem Selbstbewußtsein, d. h. der wahrhaft menschlichen Existenz [...] zugrunde, sondern die Begierde. (Darum ist, nebenbei bemerkt, menschliche Existenz nur da möglich, wo es ein gewisses Etwas gibt, das man Leben nennt – biologisches, animalisches Leben. Denn es gibt keine Begierde ohne Leben.)“
„Was ist nun die Begierde (man braucht nur an die ‚Hunger’ genannte Begierde zu denken) anders als das Begehren, das betrachtete Ding durch eine Tat zu verwandeln, in seinem Dasein (das ohne Bezug zu dem meinen, unabhängig von mir ist) aufzuheben, es in dieser seiner Unabhängigkeit zu negieren, und mir zu assimilieren, zu dem meinen zu machen, in meinem und durch mein Ich zu absorbieren? Die Existenz von Selbstbewußtsein und somit Philosophie setzt also im Menschen nicht nur ein positives, passives, das Sein nur offenbar machendes Betrachten voraus, sondern auch noch eine das Daseiende verwandelnde Tat. Das menschliche Selbst muß ein Selbst der Begierde sein, d. h. ein aktives Selbst, ein negierendes Selbst, ein Selbst, das sein Sein verwandelt, das ein neues Seiendes schafft, indem es das Daseiende zerstört“
„Was anders ist nun aber das Selbst der Begierde (das Selbst des hungrigen Menschen zum Beispiel) als ein nach Inhalt lechzendes Leeres, ein Ich, das sich anfüllen will durch das, was voll ist, sich anfüllen will, indem es dieses Volle leert, sich (wenn es erst einmal angefüllt ist) an die Stelle dieses Vollen setzen will, durch sein Volles das Leere einnehmen will, welches durch die Aufhebung des Vollen entstanden ist, das nicht das seine war?“
„Die animalische Begierde (z. B. der Hunger) und das sich daraus ergebende Tun negieren, zerstören das natürliche Daseiende. Indem das Tier es negiert, es verändert, es sich zu eigen macht, erhebt es sich über dieses Daseiende. Dadurch, daß das Tier die Pflanze frißt, verwirklicht und offenbart es nach Hegel seine Überlegenheit über sie. Aber dadurch, daß das Tier sich von Pflanzen ernährt, ist es von ihnen abhängig, und so gelingt es ihm nicht, wirklich über sie hinauszugehen. Allgemein gesagt: das lechzende Leere (oder das Selbst), das sich in der biologischen Begierde offenbart, füllt sich durch das aus ihm hervorgehende biologische Tun nur mit einem natürlichen, biologischen Inhalt an. Das Selbst oder das Pseudo-Selbst, das durch die aktive Befriedigung dieser Begierde realisiert wird, ist darum ganz genau so natürlich, biologisch, materiell wie das, worauf sich die Begierde und das Tun bezieht. Das Tier erhebt sich über die in seiner tierischen, animalischen Begierde negierte Natur nur, um durch die Befriedigung dieser Begierde sofort in sie zurückzufallen. So gelangt das Tier nur zum Selbst-Gefühl, aber nicht zum Selbst-Bewußtsein“
„Die Existenz von Selbstbewußtsein und Philosophie setzt Transzendenz seiner selbst in bezug auf sich selbst als Daseiendes voraus. Und das ist nach Hegel nur dann möglich, wenn die Begierde sich nicht auf ein Daseiendes bezieht, sondern auf ein Nichtseiendes. Das Daseiende begehren heißt, sich mit diesem Daseienden anfüllen, heißt, sich in ihm unterwerfen. Das Nichtseiende begehren heißt, sich vom Daseienden befreien, heißt, seine Autonomie, seine Freiheit erringen. Die Begierde muß, um anthropogen zu sein, sich auf ein Nichtseiendes beziehen, d. h. auf eine andere Begierde, auf ein anderes lechzendes Leeres, auf ein anderes Selbst. Denn die Begierde ist Abwesenheit von Seiendem (Hunger haben heißt, der Nahrung ermangeln): ein Nichts, das im Sein nichtet, und sein Sein, das da ist [...]. Um menschlich zu sein, muß der Mensch darauf ausgehen, sich nicht ein Ding zu unterwerfen, sondern eine andere Begierde (nach dem Dinge). Dem Menschen, der menschlich ein Ding begehrt, ist es nicht so sehr um das Ding zu tun, als vielmehr um die Anerkennung seines [...] Rechtes auf dieses Ding, um seine Anerkennung als Besitzer des Dinges [...]. Nur die Begierde nach einer solchen Anerkennung, nur das aus einer solchen Begierde sich ergebende Tun schafft, verwirklicht und offenbart ein menschliches, nicht-biologisches Selbst“
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Ich
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Re: Religion und Gewalt

Beitrag von Ich »

Das ist ja im Grunde dasselbe, wie z.B. in politischen und/oder wirtschaftlichen Bereichen auch (diese Gebiete sind auch häufig miteinander verwoben).

Habe gerade in Deinem Thema "Realität - Die Fiktion einer wahren Welt " schon einiges geschrieben, was wohl auch hier zutreffend sein dürfte.

Eigentlich ist das ja auch auf allen möglichen anderen Gebieten, wo Meinungsverschiedenheiten auftreten, sehr häufig an der Tagesordnung.
Das Spektrum reicht hier vom Nachbarschaftsstreit bis in die höchsten wirtschaftlichen/politischen/religiösen Machtebenen und entsprechenden Interessen...

Hinzu kommt, das Gewalt (egal, in welcher Form!) bekanntlich immer Gegengewalt erzeugt. Das ist schon oft eine fast unendliche Spirale, da sich die Fronten (was bei ideologisch bedingten Differenzen von interessierter Seite auch oft noch zusätzlich geschürt bzw. provoziert wird) mit der Zeit verhärten...

Eigentlich könnte man viele (z.T. absolut unnötige) Streitigkeiten auch durch einen offenen Dialog beilegen. Allerdings ist eine gewisse Reife von allen Beteiligten eine Grundvoraussetzung dafür.
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Re: Religion und Gewalt

Beitrag von Zerberus »

der mensch ist eben nur ein tier und versucht ähnlich der tierwelt sein gegenüber zu dominieren . nur mit anderen mitteln ;) das ist das gesetz des stärkeren ..... und es gillt leider heutzutage immernoch
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Re: Religion und Gewalt

Beitrag von Azazel »

ich denke auch, dass dadurch die eigene Unsicherheit verdrängt wird in dem man andere gewaltsam zu zwingen versucht seinen Glauben zu akzeptieren
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Daimao_Koopa
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Re: Religion und Gewalt

Beitrag von Daimao_Koopa »

@Ich:
Hm, ich würde Religion nicht unbedingt in die politischen Streitigkeiten mit einreihen, aber im Prinzip hast du recht.
Meinungverschiedenheiten erzeugen notwendig einen "Zusammenprall zweier Welten". Wer seine Meinung im Streit
durchsetzt, dessen Meinung wird über die des anderen erhoben.

Die Sache ist nur, dass Religion ein, im Vergleich zu Politik, eher emotionales Thema ist. Religion beruht auf Glauben
und Glaube setzt eine gewisse Emotionalität voraus. Fehlt jemandem dieses Emotionalität (sei es durch rein weltliche
Interessen oder durch eine andere emotionale Struktur), wird dieser die (religiösen) Gefühle des anderen verletzen.

Dann passiert das, was der Autor in dem angegebenen Link beschreibt - die Verletzung der religiösen Gefühle werden
mit einer Verletzung des Selbst gleichgesetzt (was bei den meisten Religionen der Fall ist, da Glaube und Leben selten
getrennt werden). Menschen reagieren auf emotionale Verletzungen ebenfalls emotional (Spirale wie bei Gewalt) und
da sich Gefühle sehr sehr selten rational begründen lassen, wird der Mangel an Begründungsfähigkeit durch bloße
physische Gewalt ersetzt. Ganz nach dem Motto "Auge um Auge, Zahn um Kiefer." ;)

Eine Frage am Rande, kann man deine Auffassung des Austragens von Meinungsverschiedenheiten mit dem Inhalt des
vierten Zitats von Kojève vergleichen? Also, dass eine Selbstverwirklichung durch den Streit entsteht?

@Zerberus:
Das Problem ist nur, dass alle nichtmenschlichen Tiere lediglich handeln, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen (Triebe).
Der Mensch hingegen hat ein absolutes Selbstbewusstsein. Demnach sieht er sich auch noch mit dem Problem konfrontiert
erfahren zu müssen, wer er denn ist. Andere Tiere haben dieses Problem nicht - noch nicht einmal die Menschenaffen.

@Azazel:
Wie es scheint, haben wir beide eine ähnliche Ansicht bezüglich der Ursache für Gewaltanwendung. ;)
Die innerliche Leere des Menschen ist meiner Meinung nach der Grund für viele Eigenarten desselben.
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Re: Religion und Gewalt

Beitrag von Ich »

Daimao_Koopa hat geschrieben:Die Sache ist nur, dass Religion ein, im Vergleich zu Politik, eher emotionales Thema ist. Religion beruht auf Glauben
und Glaube setzt eine gewisse Emotionalität voraus.
Das ist bei beiden Gebieten doch dasselbe Prinzip, auch wenn sich die jeweiligen Glaubensätze und Ziele deutlich voneinander unterscheiden.
Die jeweiligen Vertreter setzen sich einerseits aus aus eher Machtorientierten (diese sind überwiegend in höheren Positionen zu finden) und andererseits mehrheitlich aus Idealisten zusammen. Bei letzteren ist die o.g. Emotionalität auf jeden Fall vorhanden - das gilt für Religion und Politik gleichermaßen.

Ich nenne hier nur mal zwei historische Beispiele:
Die Kämpfe zwischen den Kreuzfahrern und Moslems um Jerusalem (Religion) und die Straßenkämpfe zwischen SA-Männern und Rotfront-Aktivisten in der Weimarer Republik (Politik). Man getrost davon ausgehen, daß der Großteil von allen aktiv Beteiligten damals glaubte, für die "richtige" Sache oder gar für "das Gute" bzw. gegen "das Böse" zu kämpfen, so daß sie sogar ihr Leben dafür einsetzten...
Diese Liste läßt sich fast schon unendlich ergänzen - vom Anfang der uns bekannten Zeitgeschichte bis hin zur Gegenwart.
Daimao_Koopa hat geschrieben:Eine Frage am Rande, kann man deine Auffassung des Austragens von Meinungsverschiedenheiten mit dem Inhalt des
vierten Zitats von Kojève vergleichen? Also, dass eine Selbstverwirklichung durch den Streit entsteht?
Ich weiß momentan nicht, was das genau für ein Zitat ist. Aber Ich halte es grundsätzlich für durchaus möglich (aber nicht zwingend!), daß jemand durch Streit zur Selbstverwirklichung finden kann...
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Re: Religion und Gewalt

Beitrag von Daimao_Koopa »

Danke für die Erklärung! Herrschaft beruht eigentlich auch nur auf den Glauben daran... da hätte ich eigentlich selbst
drauf kommen müssen. Manchmal sieht man den Wald vor Lauter Bäumen nicht... :mad:

PS: Das Zitat, das ich meinte, ist das Vierte in meinem Eingangspost (nicht im Link).
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