Die Sieben Ich

Moderator: Cpt Bucky Saia

Lestat de Lioncour
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Registriert: 1. Aug 2005 15:10

Die Sieben Ich

Beitrag von Lestat de Lioncour »

Danke Andro für diese wunderschöne Parabel

Die Sieben Ich

In der stillen Stunde der Nacht -
ich war halb eingeschlafen -
kamen meine sieben Ich zusammen und flüsterten miteinander:

Erstes Ich:
" Ich hauste all die Jahre hier in diesem Narren und hatte nichts zu tun, als bei Tag seinen Schmerz zu schüren und ihm bei Nacht neue Sorgen zu bereiten. Ich kann mein Los nicht länger ertragen, und jetzt lehne ich mich dagegen auf !"

Zweites Ich:
" Dein Los ist besser als meines, Bruder, denn meine Aufgabe ist´s, das fröhliche Ich dieses Narren zu sein. Ich lache, sein Lachen, ich singe seine glücklichen Stunden, und mit dreimal beflügelten Schuhen tanze ich seine Heiterkeit. Ich bin´s, der sich gegen dieses beschwerliche Los auflehnt !"

Drittes Ich:
" Und was ist mit mir, dem von Liebe tollen. Ich, der Flamme wilder Leidenschaft und phantastischer Begier ? Ich liebeskrankes Ich lehne mich gegen diesen Narren auf !"

Viertes Ich:
" Ich bin unter euch allen das elendste, denn ich kann nur mit stetem Hass und Abscheu alles zerstören. Ich bin der Höllensturm aus schwarzer Finsternis und ich will diesem Namen nicht länger dienen !"

Fünftest Ich:
" Nein, ich bin es, das denkende, das phantasievolle Ich, von Hunger und Durst dazu verdammt, rastlos das Unbekannte und noch nicht Geschaffenes zu suchen. ich habe mich zu beklagen, nicht Ihr !"

Sechstes Ich:
" Ich bin der elende Arbeiter, der mit geduldigen Händen und mit sehnsüchtigem Blick die Tage erst zu Bildern formt und den Stoffen neue und ewige Gestalt verleiht. In meiner Einsamkeit lehne ich mich gegen diesen ruhelosen Narren auf !"

Siebentes Ich:
" Wie seltsam, daß ihr Euch gegen diesen Mann auflehnt, hat doch jedes von Euch eine bestimmte Aufgabe.
Ach hätte ich doch, wie Ihr, auch eine Bestimmung !
Aber ich habe keine.
Ich kauere im Dunkel, ohne Raum und Zeit, und tue nichts, während ihr eifrig neues Leben erschafft.
Bin ich es, der sich zu beklagen hat, oder seit ihr es, Nachbarn ?"

Nachdem das siebente ich so gesprochen hatte, sahen die anderen sechs es mitleidig an und schwiegen -
und als die Nacht fortschritt, schliefen sie eines nach dem anderen ein, froh, eine neue Aufgabe zu haben.

Das siebente Ich aber blieb wach und blickte weiter in das Nichts, das hinter allen Dingen ist...

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