Archiv: Nochmal zur Anarchie

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Tinúviel
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Archiv: Nochmal zur Anarchie

Beitrag von Tinúviel »

Geschrieben von Tinúviel am 11. Juli 2001 23:05:36:

Carpe noctem!
Ich las unten, daß dieses Thema angerissen wurde und will es doch noch einmal etwas ergänzen. Zunächst ist es richtig, daß es im allgemeinen mit dem Fehlen von Herrschaft assoziiert wird und hier in dem Sinn des Fehlens von Ordnung als Barbarei nach dem Zerfall einer Ordnung oder im Hobbes'schen Naturzustand, der allerdings ein Konstrukt ist, welches auf Erfahrungen mit dem 30jährigen Krieg aufbaut.
Daneben gibt es aber eine politische Strömung der Anarchie, die sich im 19. Jahrhundert neben Konservativen, Liberalen und Sozialisten herausgebildet hat. Ein bekannter Vertreter ist Bakunin. Ihre Annahmen gehen von einem grundsätzlich guten und gleichen Menschen aus, der erst durch die staatliche Institutionalisierung entfremdet werde. Ein sehr moderner Vertreter ist der Verfasser des Buches "Panokratie" Blubb, der mit einer Umstrukturierung der Politik (anstatt von oben nach unten von unten nach oben) die sozialistische Utopie für realisierbar hält.
Vergleichen wir das mit den drei anderen Strömungen. Der Konservatismus wollte die alte Ordnung des feudalen ancient regime erhalten, der Fürst als absoluter Herrscher aus gottgebenem Recht. Das ging so lange gut, wie 90% der Bevölkerung Analphabeten und unfreie Bauern waren. Und zumindest dieser Art der Herrschaft hat die Aufklärung ein Ende bereitet. Im Prinzip baut der Führerkult als materialistische Variante im Faschismus auf ähnlichen Voraussetzungen auf.
Der Liberalismus, der heute den Sieg davon getragen hat, geht naturrechtlich wie alle außer dem Konservatismus davon aus, daß alle Menschen gleich seien. In dieser Logik des Naturrechts erfolge daraus ein Automatismus, nach dem irgendwann über das Prinzip des Egoismus und des allgemeinen Nutzens das Eigentum gleichverteilt sei. Doch die Realität zeigt, daß diese Annahme in gewisser Hinsicht falsch sein muß, denn die moderne Welt lebt von Elitenzirkulation und Konzentration der Märkte in einem globalisiertem Kasinokapitalismus.
Der Sozialismus wiederum scheitert wie die Idee einer positiven Anarchie an seinem Menschenbild, denn eben gerade dieser Egoismus, von dem der Liberalismus lebt, wird hier zum Systemrisiko, denn trotz einer "Diktatur des Proletariats" und einer Vergesellschaftung des Eigentums oder auf der anderen Seite die Herrschaftslosigkeit müßte irgendwie sichergestellt sein, daß niemand sich bereichert und wirklich das vergesellschaftliche Eigentum nicht der Institution Staat gehört, sondern alle Menschen ein entsprechend hohes moralisches Bewußtsein haben. Dies beißt sich meiner Meinung nach mit dem Materialismus, der all diesen drei Richtungen eigen ist. Man müßte auch nur auf die Sexualstraftäter verweisen, um die krassesten Fälle aufzuzeigen. Wer behauptet, dies sei Entfremdung der Moderne, soll sich mal überlegen, warum Jungfrauen im Mittelalter der Legende nach von Drachen entführt wurden. Der "neue Mensch", den Engels postuliert, ist nicht faktische Wirklichkeit. Ansich hat sich der Mensch in den letzten Jahrhunderten in seiner Verfassung von Geburt an nicht viel verändert, nur die kulturell verschiedene Umwelt macht den Unterschied in Bezug zur Gattung. Die etwa von der Theosophie und Anthroposophie gewollte "spirituelle Revolution" müßte erst noch beginnen, doch wenn man in dörfliche Stammtische und Fußballvereine schaut, ist es da meist nicht weit her.
Dann ist da noch die Gleichheit der Menschen. Sie bedeutet im Liberalismus praktisch nicht mehr als Chancengleichheit, in der jeder den amerikanischen Traum leben könnte, also gleiche Rechte. Sozialistische Einflüsse geben darüberhinaus noch wohlfahrtliche Beigaben wie Versicherungen, Behindertenhilfen, Altersfürsorge bis hin zu einem geforderten Recht auf Arbeit.
Diese Einflüsse erhärten schon den Verdacht, daß diese in der Chancengleichheit enthaltene Gleichheit der Menschen auch nur Konstrukt ist.
Meines Erachtens geht es hier um zwei Knackpunkte: Gewohnheiten und Talente.
Auf der einen Seite scheinen wir individuell verschieden so etwas wie Fähigkeiten oder Anlagen zu solchen zu besitzen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, das Klavierspielen. Von zehn Leuten mögen zufällig drei gut Klavierspielen können. Würde ich unter Talenten jetzt nur Klavierspielen verstehen, wären alle anderen sieben untalentiert, selbst der Philosoph Platon wäre es, denn selbst wenn er das Talent gehabt hätte, es gab noch keine Klaviere, an denen er es herausfinden hätte können.
Genauso geht meines erachtens der Liberalismus/Kapitalismus vor. Während in den anderen beiden Richtungen Sozialismus und Anarchismus alle Menschen so gleich sind, daß jeder für alles befähigt sein soll - was nicht stimmen kann, denn es gibt Menschen, die soviel ans Klavier gezwungen werden können, wie man will, sie werden keine Mozarts, selbst die, die gut spielen, sind kein Mozart und werden es nicht unbedingt - fordert der Liberalismus nur einige wenige Talente, so daß niemand sagen kann, es gebe Untalentierte, denn diese könnten auch nichtgeforderte Talente besitzen - so wie Platon ein potentieller Klavier-Virtuose gewesen sein könnte.
Ebenso kann auch niemand behaupten, der derzeit so starke Egoismus sei unüberwindbar, vielleicht ist er nur Gewohnheit, anerzogen durch kultürliche Praxis. Nun unterscheidet die Gewohnheit sich von einer gewöhnlichen Handlung darin, daß sie beinahe wie ein konditionierter Reflex antrainiert wurde. Sie erfährt erst eine Chance zur Auflösung, wenn die darin enthaltene Handlung mißlingt im Auge des Ausführenden. Der Raucher wird seine Verfehlung dann vielleicht auch wirklich erst richtig einsehen, wenn ihm sein Raucherbein amputiert wurde. Alle vorherigen Versuche sind schwer, das erfahre ich gerade anm eigenen Leib *gg*. Dazu handelt es sich hier um eine Gewohnheit, die auf jeden Fall irrational ist und dazu noch langsam ihre Anerkennung verliert. Das soll nur ein Beispiel sein, noch bin ich selbst Raucher und will mich nicht dagegen aussprechen.
Ein weiteres Problem ist eben der Materialismus, der seltsamerweise nur noch im Konservatismus eine Gegenidee findet (modern vielleicht im Existentialismus).
Dadurch wird alles Weltliche (das private Eigentum zunächst) zu Gebrauchsgegenstand und Konsummittel, verstärkt durch die Massenproduktion, die eben diesen Gegenständen den früheren Kunstwert eines einzigartigen Ergebnis von Handwerkskunst nimmt. Damit wird alles austauschbar einschließlich den schließlich objektivierten Mitmenschen, die damit auch wie Materie - egoistisch - behandelt werden. Der Kreis schließt sich und es bildet sich eine Art Umgestaltungskonzept heraus: nämlich alle Talente suchen und fördern, Gewohnheiten erkennen und zum Scheitern führen (die kommenden Umweltkrisen dürften meiner Meinung nach entscheidende Grundschritte legen, doch ich vermute, es müssen leider erst viele Menschen sterben, bevor Einsicht waltet), ja zur Wissenschaft, aber nein zu jeder technischen Nutzung allen Wissens, weg vom materialistisch geprägten Leben hin zu einer ideelen Welt, in denen jeder Mensch und seine Erzeugnisse wieder als einzigartig erkannt werden können.
Okay, das ist wieder utopisch, doch diese Dinge wären notwendig und sind kein von null-auf-hundert-Programm, sondern beschreiben, wenn überhaupt realisierbar, einen über Jahrhunderte hin zu erfüllenden Plan.
Bomberman

Re: Archiv: Nochmal zur Anarchie

Beitrag von Bomberman »

Aha
:|
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Vamp
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Beitrag von Vamp »

Da Archy anscheinend nicht das ist, sag ich es einfach: "Wenn man nix zu sagen hat einfach mal die Fresse halten!"
Womit ich natürlich nicht Tinúviels Beitrag meine, sondern den höchst Konstruktiven Beitrag seines "Nachredners"
Wenn Katzen wie Frösche aussähen, so würde uns bald klar, wie gemein die kleinen Teufel sind. (Lords und Ladys; Terry Pratchett)
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Azazel
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Beitrag von Azazel »

Danke Tinu - sehr interessant und absolut lesenswert!
Wobei ich ja nach wie vor ein Freund der Anarchie bin, wenn sie auch im tatsächlichen leben ..wie alle Staatsformen am menschen scheitern wird
Lestat de Lioncour
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Beitrag von Lestat de Lioncour »

:peace:

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