bewusste und unbewusste Urteile

Psychologische, philosophische und wissenschaftliche Betrachtungen

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Amimatani
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bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Amimatani »

Durch diverse Lektüre bin ich auf psychologische Untersuchungen gestoßen, welche unsere bewussten und unbewussten Urteile über soziale Gruppen miteinander vergleichen. Solche Untersuchungen sind u.a. deswegen interessant, weil es für vorurteilsfreies Handeln nicht reicht, dass wir bewusst ohne Vorurteile sind. Denn für das automatische Alltagshandeln sind die unbewussten Einschätzungen maßgeblich. Für einen selbst ist es natürlich wünschenswert, dass die bewussten Urteile mit den unbewussten Einschätzungen übereinstimmen. Aber das ist eben zuweilen nicht der Fall: unser unbewusstes System veranlasst uns dann zu anderen Handlungen, als unser bewusstes System.

Hier ist ein Link auf ein paar einfache deutsche Beispieltests des "Implicit Association Test Project":
https://implicit.harvard.edu/implicit/g ... tatest.jsp

Für mich war insbesondere der WessiOssi-Test interessant, da er die größte Abweichung zwischen meiner bewussten und unbewussten Einschätzung aufwies. Natürlich kann man sich generell über solche Tests streiten. Darum geht's mir hier nicht. Wer Lust hat, kann das ja selbst mal für sich ausprobieren, es geht ziemlich schnell. Wer's Blödsinn findet, lässt es einfach. ;)

Hier der Link auf die offizielle Info-Site des Project Implicit:
http://projectimplicit.net/index.html

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Daimao_Koopa
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Daimao_Koopa »

Als Hilfe zur Bewusstwerdung gut geeignet, aber ansonsten eigentlich selbsterklärend, weil typisch menschlich. :D
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asfaloh
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von asfaloh »

Nun ja, ich denke, dass die anthropologische Grundfrage nach Freund und Feind viel mit unserer unbewussten Urteilsbildung zu tun hat. Damit stellt alles bzw. Jeder, der nicht gesellschaftskonform daher kommt unbewusst erst einmal eine Gefahr dar, d.h. unser Innerstes ist auf Kampf oder Flucht aus. Die meisten Menschen nehmen sich ja nicht die Zeit "hinter die Fassade" zu blicken - logisch, mit einem Säbelzahntiger über seine innerste Einstellung zum Leben zu diskutieren, hatte im Normalfall ein schnelles Ableben zur Folge. Schade eigentlich!

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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von asfaloh »

...und wenn man diskutiert, kann sowas bei rauskommen:

http://youtu.be/JMJXvsCLu6s

nix für ungut :)

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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Amimatani »

Daimao_Koopa hat geschrieben:Als Hilfe zur Bewusstwerdung gut geeignet, aber ansonsten eigentlich selbsterklärend, weil typisch menschlich. :D
Die Diskrepanz zwischen bewusstem und automatischem (unbewussten) Urteilssystem ist der Kern von locker 80% aller Magie.

Ohne Übereinstimmung, kein "Ich tue, was ich will". Ohne Kenntnis einzelner Diskrepanzen in der Umwelt, keine nachhaltige Veränderung.

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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Ich »

Ich war nicht wenig überrascht, folgenden Artikel - der wie angegossen zu diesem Thema paßt - im "Focus" zu finden (4-seitig - sollte man bei Interesse auch bis zum Schluß lesen!):

http://www.focus.de/finanzen/news/tid-2 ... 11015.html
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Daimao_Koopa »

Danke für den Artikel! Vom Grundthema her, erinnert er mich - gerade wegen des Begriffs "linkspolitisch" - an die Gender-Debatte.
Genau wie unter den Anti-Sexisten frißt hier die Revolution ihre eigenen Kinder. ...Und das tatsächlich unbewusst.

...Oder doch nicht? Immerhin wird zu Beginn des Artikels, die Angst vor sozialer Ausgrenzung angesprochen. Dann bliebe nur noch die
Frage, ob dieser Angst tatsächlich bewusst nachgegeben wird, oder ob sie verdrängt, bzw. erst durch die politisch korrekten Floskeln
beschönigt und verarbeitet wird? Ich tendiere da eher zum ersten Fall. Demnach wird der Angst bewusst nachgegeben und dadurch auch
bewusst gelogen und unterdrückt.
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Ich »

Ich denke, daß auch hier aus ursprünglich gut gemeinten Wertevorstellungen mit der Zeit ganz automatisch ein Dogma (bzw. Dogmen) entstand, welches das ganze (u.a.) somit - naturgemäß - völlig umkehrte bzw. regelrecht pervertierte. Damit sind die Betroffenen selbst zu dem geworden, was sie einst so leidenschaftlich bekämpfen wollten. Demzufolge hast Du hier insofern Recht, daß "der Muff von 1000 Jahren" heute unter ihren eigenen "Talaren" steckt. Aus (r-)evolutionär wurde reaktionär. Aus Freiheitsstreben/Selbstverwirklichung (o.ä.) wurde wieder Unterdrückung.
Typisch menschlich. Ein immer wiederkehrendes Schauspiel mit wechselnder Rollenbesetzung. Kurioserweise - ganzheitlich betrachtet - auch ein evolutionärer Vorgang.
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Daimao_Koopa »

Ich hat geschrieben:Kurioserweise - ganzheitlich betrachtet - auch ein evolutionärer Vorgang.
Eine Ausprägung des "Kampf ums Dasein"? Könnte passen, aber irgendwie scheint mir der Aspekt um die "Selektion" etwas... willkürlich. :lol:
Frei nach dem Motto "alle in einen Sack, mit dem Knüppel draufhauen, und man trifft immer den Richtigen." :har:
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Ich »

Nein - die Betonung beim letzten Satz liegt bei dem Wörtchen "kurioserweise". Denn aus diesem ewig wiederkehrenden "Schauspiel" schälen sich - nach menschlichen Maßstäben sehr langsam - trotzdem auch Weiterentwicklungen heraus, die wir zumeist selbst gar nicht so wahrnehmen (können).
Es wäre z.B. töricht anzunehmen, daß die Menschheit im Mittelalter allgemein "dümmer" (o.ä.) gewesen wäre, als die heutige. Dem ist nicht so!
Dieses besagte Nicht-Wahrnehmen liegt u.a. darin begründet, daß sich diese Entwicklungen über X Generationen oder auch Jahrhunderte hinweg erst ganz langsam entwickeln. Einzelne Generationen tragen somit unbewußt (!) ihren jeweils minimalen Anteil dazu bei. Wir auch. Was bzw. wo wären wir wohl ohne die Erfahrungen unserer vielen vorfahrenen Generationen?
Aber alles weitere dazu wäre jetzt an dieser Stelle wieder ein (z.T. anderes) Thema für sich.
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Amimatani »

Der folgende Beitrag bezieht sich kaum noch auf das Anliegen meines Eingangsposts, sondern v.a. auf die Diskussion zwischen Koopa und "Ich", sowie den angegebenen Focus-Artikel.
Ich hat geschrieben:Ich denke, daß auch hier aus ursprünglich gut gemeinten Wertevorstellungen mit der Zeit ganz automatisch ein Dogma (bzw. Dogmen) entstand, welches das ganze (u.a.) somit - naturgemäß - völlig umkehrte bzw. regelrecht pervertierte.
Dies Zitat nehme ich nur als Beispiel der Diskussion.
Was den Focus-Artikel betrifft: ich halte ihn für oberflächliche Polemik, der einmal mehr bestätigt, was oft gesagt wird: "Der Focus ist die Bild-Zeitung für Intellektuelle". Es werden Gefühle mobilisiert, welche die Leser in gewünschte Denkrichtungen lenken, anstatt zu analysieren, was für gesellschaftliche und historische Kräfte im einzelnen wie wirken. Sowas nannte man früher "Meinungsmache", und das Wort beschreibt es gut.

Nehmen wir das unsägliche Wort "Gutmenschen", mit dem der Artikel beginnt. Gewiss, der Begriff ist mittlerweile weit verbreitet, das macht ihn in seiner Abfälligkeit und seiner Weise, Menschen in gröbste Schubladen zu sortieren und damit jede Diskussion im Keim zu ersticken nicht besser. Es gibt ein anderes, besseres Wort an dieser Stelle: Moralismus. Denn darum geht es ja wohl bei der Kritik: wenn der Moralismus zur Doktrin des Handelns und insbesondere des politischen Handelns erhoben wird, dann kommt dabei Bullshit heraus. In dieser Hinsicht stimme ich den vorhergehenden Beiträgen zu.

Doktrinärer Moralismus findet sich in allen Richtungen, im politisch grünen, rechten und linken politischen Lager, in der Esoterik, der Religion, ja, zuweilen auch in der Magie. Der Begriff "Gutmenschentum" ist aber so entstanden, dass er sich aus all den beschränkten Moralismen diejenigen der grün oder links angehauchten Menschen herauspickt. Damit trägt er zur Verschleierung der zentralen Problematik bei: es ist ein Ablenkungsbegriff, ein Steuerungsbegriff.

Was nun die gesellschaftlichen Entwicklungen betrifft, die seit dem Wirken der Emanzipations-, Friedens- und Umweltbewegung der 60er bis 80er Jahre entstanden sind, ist zu bedenken, dass es eine Reihe anderer gesellschaftlicher Einflussfaktoren gibt, die hinzugekommen sind. Diese sind - wie so oft in der Geschichte - in erster Linie wirtschaftlicher Art. Die enorme Finanzkonzentration im obersten Einkommensspektrum, die forcierte Globalisierung der Wirtschaft, der z.T. unsägliche Finanzhandel, das Internet als Wirtschaftsinstrument und -faktor nur als Beispiele.

Manche der wirkenden ökonomischen Kräfte haben die Anliegen der vergangenen Emanzipationsbewegungen buchstäblich aufgesogen, für ihre Zwecke instrumentalisiert: Hauptsache die Bilanz stimmt. Denn immer wieder geht es um die Frage: wie lässt sich das lukrativste Geschäft machen. Alles kann vermarktet werden, und Moralismus wird zu einem nützlichen Hilfsmittel, den jeweiligen Markt-Kontrahenten zu verdrängen. Es ist eben nicht die Revolution, welche da ihre Kinder gefressen hat, es ist der Markt und die ihm dienende Politik, welche gefressen, aufgesogen und instrumentalisiert haben.

Und, ja, es gibt die Menschen aus den vergangenen Emanzipationsbewegungen, die auf den fahrenden Zug aufgesprungen sind und ihre Macht- und Einflusswünsche realisieren, indem sie v.a. ökologischen Moralismus und Gesundheitsdoktrinen den übergeordneten Kräften andienen. "Schulddenken" hat eben eine ganz breite Brücke zum Schulden-Denken, und moralisches Schuldbewusstsein lässt sich sehr leicht in materielle Schuldenverhältnisse transferieren: derjenige, der "moralische Schuld" trägt, muss dann auch die Kosten tragen.

Die wirkenden ökonomischen Kräfte als solche entziehen sich aber solchen Schuld- oder auch Verantwortungszuweisungen und können nur schwer zur Rechenschaft gezogen werden. Denn es sind abstrakte Kräfte, auf welche die Kategorien aus dem zwischenmenschlichen Miteinander nicht passen: der Finanzmarkt kann keine "Schuld" haben und dafür die Kosten tragen, er macht Geschäfte mit Schulden, und die Kosten werden delegiert. Das Internet kann keine "Schuld" haben, aber es kann als effektives Mittel der Selbstausbeutung wirken, indem es z.B. zahlreiche frühere Dienstleistungen mittlerweile vom Kunden selbst ausführen lässt, oder auch, indem es viele Beschäftigten mehr und mehr in eine Rund-um-die-Uhr Onlineverfügbarkeit zwingt.

Was ich damit sagen will: gesellschaftliche Veränderungen sind eine komplizierte Sache, bei der es viele Faktoren zu berücksichtigen gilt. Ich war in den 70er und 80er Jahren selbst aktiv in der Friedensbewegung und habe als Frau eine Menge Lebenskraft dafür gebraucht, zumindest annähernd gleichwertige Lebensverhältnisse für mich zu schaffen, wie für die Männer meiner Generation. All diese Veränderungen haben seinerzeit eine Menge kollektiven und individuellen Gehirnschmalz gekostet. Gerne lasse ich mir sagen, dass die zum Dogma erstarrten Anliegen aus jener Zeit heute keine Veränderung mehr bewirken. Aber bitteschön: was dann? Ganz gewiss kein Zurückschrauben auf den Stand der 50er und 60er Jahre. Doch eben darauf läuft es doch hinaus, wenn man die älter gewordenen Menschen jener Bewegungen in die Schublade "Gutmenschen" packt, ohne neue, weiterführende Wege aufzuzeigen, welche alle wesentlichen Kräfte unserer Zeit mit berücksichtigen.

Mit Verlaub: die Kernanliegen der Emanzipations-, Friedens- und Umweltbewegungen sind doch nicht von gestern. Krieg, Unterdrückung, Ressourcenausbeutung lasten nach wie vor auf zahllosen Menschen dieser Welt. Es ist hierzulande nur nicht mehr so dicht am eigenen Leben wahrnehmbar, wie z.B. in meiner Kindheit und Jugend in den 60er und 70er Jahren. Ich habe mit meinen 54 Jahren noch am eigenen Leib und Seele erlebt, wie Krieg und Faschismus mehr oder weniger die komplette Elterngeneration seelisch zerstört hat, und dass dies bis weit in die nachfolgende Generation hineingewirkt hat.

Diejenigen, die sich damals engagierten, taten dies sehr bewusst. Natürlich musste die Komplexität der Folgen für 30 Jahre später damals noch unbewusst sein. Ein wenig davon ist heute ins Bewusstsein gedrungen, und da kann es leicht kritisiert werden. Fein. Aber was für neue bewusste Perspektiven ergeben sich daraus? Was für ein Handeln? Es wird seinerseits wieder mit dem Risiko leben müssen, dass es 30 Jahre später jetzt Unbewusstes erkennen und kritisieren kann. That's life. Nur eines geht m.E. nicht: sich zurücklehnen und denken, das Unbewusste wird's schon richten. Denn das Unbewusste tut das, was es schon kennt, was es über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende eintrainiert hat. (Eben das ist übrigens die Aussage der im Eingangspost angedeuteten Untersuchungen.) Es ist im positiven Sinne konservativ, aber es schafft nichts Neues.

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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Daimao_Koopa »

Amimatani hat geschrieben:Es ist eben nicht die Revolution, welche da ihre Kinder gefressen hat, es ist der Markt und die ihm dienende Politik, welche gefressen, aufgesogen und instrumentalisiert haben.
In Ordnung. So, wie du den Vorgang umschrieben hast, kann und muss ich dir in diesem Fall zustimmen!
Amimatani hat geschrieben:Mit Verlaub: die Kernanliegen der Emanzipations-, Friedens- und Umweltbewegungen sind doch nicht von gestern. Krieg, Unterdrückung, Ressourcenausbeutung lasten nach wie vor auf zahllosen Menschen dieser Welt.
Das sind sie auch nicht! Die Anliegen sind heute immer noch aktuell, aber dafür - und weswegen es noch keine Lösung für viele der darin
enthaltenen Probleme gab - ist die korrumpierte Mechanik im Inneren dieser Bewegungen verantwortlich. Es wird einfach nur nach akuten
Lösungen für akute Probleme gesucht - nicht nach ganzheitlichen, langfristigen Lösungen für die Probleme an sich. Daran sind wohlmöglich
auch die übergeordneten Instanzen verantwortlich, aber Auswege gibt es dennoch.

Im bezug auf die Emanzipation und die Gender-Debatte, hatte z.b. die Geschlechterforscherin Judith Butler einen Ausweg genannt: eine vollkommen
neue Politik der Geschlechter, an deren Aufbau sich alle ehemaligen Parteien des Konfliktsbeteiligen. Kurzum: laut ihrer Theorie wäre die Abschaffung
der Geschlechtsbegriffe ein erster Schritt in Richtung einer grundauf gleichberechtigten Gesellschaft gewesen. Wer keine Geschlechter kennt, kann
auch keine Unterschiede machen - so lautete das Motto.

Die Emanzenbewegung, samt den mitlaufenden Politikern haben diese Theorie zwar in den Himmel gelobt, aber im Grunde gar nicht verstanden,
worum es Butler mit ihrer Idee ging. Die Bewegung an sich hat es stattdessen wunderbar geschafft, den durchaus umsetzbaren Ansatz von Butler
in eine noch schärfere Waffe zum Spalten zu verwandeln. Man war einfach zu sehr auf die bestehenden Begriffe geeicht, alsdass man von ihnen
ablassen konnte, um gemeinsam etwas Neues zu schaffen, an dem alle Beteiligten zu gleichem Maße gewichtet werden.
Nein, stattdessen wurden Männer weiterhin dämonisiert und Butlers Theorie lediglich auf den Begriff der Frau angewandt. Dadurch entwickelte
sich ein Bild einer "modernen Frau", das selbstverständlich von sämtlichen Emanzipatoren idealisiert wurde. Frauen, die diesem Bild nicht ent-
sprachen, oder entsprechen wollten, wurden nun aber plötzlich ebenfalls dämonisert. Auf dieser Welle ist die Schwarzer dann auch groß geworden...

Es gab (bzw. es gibt immer noch!) einen Ausweg aus der geschlechtlichen Ungleichheit! Die jeweiligen Akteure sind waren/sind einfach
zu blind - man kann fast sagen: zu sehr an ihren verhassten Ist-Zustand gewöhnt - um etwas zu verändern.

Ein anderes Beispiel für die Umweltbewegung (und deren vor Fäulnis stinkende, grüne Ausgeburt) wäre der nicht allzu weit zurückliegende
Umgang mit dem Atomausstieg... Tja, wegen der panischen Kurzschlussreaktion einiger Politiker haben wir jetzt den Salat: steigende
Strompreise aufgrund von unausgereiften Ökostromquellen. Hätte man sich nicht so sehr von den grünen Journalisten blenden lassen, wäre
ein sicherer Ausstieg auch in naher Zukunft noch möglich gewesen. Der atomaussteig war eine bewusste Entscheidung - aber eine viel zu
Kurzsichtige...

Wie gesagt, das Problem sind nicht die Bewegungen und deren Motive - es ist die veraltete Mechanik in Inneren.
Amimatani hat geschrieben:Diejenigen, die sich damals engagierten, taten dies sehr bewusst. Natürlich musste die Komplexität der Folgen für 30 Jahre später damals noch unbewusst sein. Ein wenig davon ist heute ins Bewusstsein gedrungen, und da kann es leicht kritisiert werden. Fein. Aber was für neue bewusste Perspektiven ergeben sich daraus? Was für ein Handeln? Es wird seinerseits wieder mit dem Risiko leben müssen, dass es 30 Jahre später jetzt Unbewusstes erkennen und kritisieren kann. That's life.
Ich gebe dir Recht. Dem wird sicherlich so sein - wenn man bis dahin nicht die rostigen, verzahnten Teile (veraltete Vorstellungen/Vorgehensweisen)
durch Neue ersetzt. Man denkt heutzutage einfach zu sehr wie ein Arzt: Probleme sind rein akuter Natur, also gebe ich für jedes Symptom ein
Mittelchen. Die eigentliche Krankheit lässt sich aber durch bloße Bekämpfung der Symptome nicht erreichen... es braucht tiefgreifende Mittel!
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Amimatani
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Amimatani »

Daimao_Koopa hat geschrieben:Man denkt heutzutage einfach zu sehr wie ein Arzt: Probleme sind rein akuter Natur, also gebe ich für jedes Symptom ein
Mittelchen. Die eigentliche Krankheit lässt sich aber durch bloße Bekämpfung der Symptome nicht erreichen... es braucht tiefgreifende Mittel!
Ja. Bei dem Von dir ausgeführten Beispiel der Frauenbewegung bedeutet das aber auch, das die Vorschläge von Judith Butler an der Sache vorbeigehen. Sie meint, die Kategorien (männlich/weiblich usw.) wären das Problem. Das Geschlecht als solches ist aber kein Problem, und man kann diese Kategorie halt auch nicht abschaffen.

Es ging und geht nicht um Geschlecht bei den Unterdrückungsstrukturen. Es ging um die Handlungsstruktur Patriarchalimus. Diese Struktur hat den Geschlechtsunterschied genutzt, so wie Sklaverei die Hautfarbe genutzt hat. Aber weder ist die Hautfarbe Ursache für Sklaverei, noch ist der Geschlechtsunterschied Ursache für Patriarchalismus.

Vielmehr ist der Kern bzw. Ursprung patriarchalen Denkens und Handelns, dass es Eigentumsrechte an Menschen und menschlichen Beziehungen gibt. Deshalb z.B. war es für Frauen so wesentlich, Zugang zur Arbeitswelt zu erhalten in einer Weise, die ihnen materielle Unabhängigkeit erlaubte.

Es gilt aber auch: sobald irgendwer, auch Frauen, Eigentumsrechte auf Menschen oder menschliche Beziehungen projezieren, entsteht eine patriarchale Struktur. Nun sind gerade diese Eigentumsmuster sehr tief im Unbewussten verankert und im konkreten Fall nur schwer als solche zu erkennen. Und heute v.a. auch: Eigentum und Besitzverhältnisse in diesen Bereichen haben eine völlig neue Qualität hinzugewonnen, indem der Privatbereich nicht mehr (nur) wie früher vom "Pater familias" in Besitz umgewandelt wird. Sondern indem es kollektive Formen gibt, Wirtschaftsunternehmen wie facebook, google usw. usf., welche das Private in Eigentumsverhältnisse umwandeln.

Dies nur als Beispiel, welches zeigen soll, wie dieselbe Struktur ("Patriarchalismus") heute in völlig neuen, durchaus "frauenfreundlichen", Gewändern daherkommen kann, ohne etwas im Kern geändert zu haben: nämlich aus dem Besitz am Privatleben anderer Menschen materiellen Vorteil zu schlagen.

Es ging und geht bei aller Emanzipationsdiskussion eben nicht so sehr um Gerechtigkeit, sondern um Freiheit in der Bestimmung über das eigene Leben.

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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Ich »

Amimatani hat geschrieben:Der folgende Beitrag bezieht sich kaum noch auf das Anliegen meines Eingangsposts, sondern v.a. auf die Diskussion zwischen Koopa und "Ich", sowie den angegebenen Focus-Artikel.
Ich hat geschrieben:Ich denke, daß auch hier aus ursprünglich gut gemeinten Wertevorstellungen mit der Zeit ganz automatisch ein Dogma (bzw. Dogmen) entstand, welches das ganze (u.a.) somit - naturgemäß - völlig umkehrte bzw. regelrecht pervertierte.
Dies Zitat nehme ich nur als Beispiel der Diskussion.
Was den Focus-Artikel betrifft: ich halte ihn für oberflächliche Polemik, der einmal mehr bestätigt, was oft gesagt wird: "Der Focus ist die Bild-Zeitung für Intellektuelle". Es werden Gefühle mobilisiert, welche die Leser in gewünschte Denkrichtungen lenken, anstatt zu analysieren, was für gesellschaftliche und historische Kräfte im einzelnen wie wirken. Sowas nannte man früher "Meinungsmache", und das Wort beschreibt es gut. ...
Oh, ob sich da wohl jemand ertappt oder gar angegriffen fühlt? :D
Ich finde den Artikel bemerkenswert, weil er - natürlich gezielt provokant und wider dem Zeitgeist (herzlichen Glückwunsch übrigens >:-> ) - zum (Nach-) Denken anregt und dies auch soll!

Wenn Du nochmal genauer nachliest, dann wirst Du darüberhinaus feststellen, daß wir diesen ja nicht so einseitig und unreflektiert übernommen haben, wie Du es hier anscheinend so emotional darzustellen versuchst! Das sollte doch wohl u.a. schon anfangs alleine an meinem obigen Satz "Ein immer wiederkehrendes Schauspiel mit wechselnder Rollenbesetzung." (der sich übrigens direkt unter meinem Satz, den Du hier zitiert hast, befindet!) zu erkennen gewesen sein, oder?
:(

P.S.: Du hast oben u.a. die "Friedensbewegung" erwähnt. Ist wirklich verdammt lange her, daß Ich diese auf der Straße sah. :denk: Gründe dafür gäbe es auf jeden Fall zuhauf.
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Amimatani »

Ich hat geschrieben:
Amimatani hat geschrieben:Der folgende Beitrag bezieht sich kaum noch auf das Anliegen meines Eingangsposts, sondern v.a. auf die Diskussion zwischen Koopa und "Ich", sowie den angegebenen Focus-Artikel.
Ich hat geschrieben:Ich denke, daß auch hier aus ursprünglich gut gemeinten Wertevorstellungen mit der Zeit ganz automatisch ein Dogma (bzw. Dogmen) entstand, welches das ganze (u.a.) somit - naturgemäß - völlig umkehrte bzw. regelrecht pervertierte.
Dies Zitat nehme ich nur als Beispiel der Diskussion.
Was den Focus-Artikel betrifft: ich halte ihn für oberflächliche Polemik, der einmal mehr bestätigt, was oft gesagt wird: "Der Focus ist die Bild-Zeitung für Intellektuelle". Es werden Gefühle mobilisiert, welche die Leser in gewünschte Denkrichtungen lenken, anstatt zu analysieren, was für gesellschaftliche und historische Kräfte im einzelnen wie wirken. Sowas nannte man früher "Meinungsmache", und das Wort beschreibt es gut. ...
Oh, ob sich da wohl jemand ertappt oder gar angegriffen fühlt? :D
Ein beliebtes Argument im Psycho-Eso-Umfeld: wenn man etwas emotional kritisiert, dann fühlt man sich wohl "ertappt" o.ä... :D Funktioniert bei mir nicht (mehr). :rauchen:

Ne, kein Problem. Mir war's einfach wichtig, diese Perspektive(n) mal zu formulieren. Dass eure Diskussion noch anderes, Weiterführendes enthielt, ist mir klar.

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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Ich »

Amimatani hat geschrieben:Ein beliebtes Argument im Psycho-Eso-Umfeld: wenn man etwas emotional kritisiert, dann fühlt man sich wohl "ertappt" o.ä...
Das war natürlich kein Argument, sondert eine (zugegeben rhetorisch-provokative ;) ) Frage.
Trotzdem noch eine kleine Nebenfrage: Was verstehst Du genau unter "Psycho-Eso-Umfeld"?
Amimatani hat geschrieben:... Dass eure Diskussion noch anderes, Weiterführendes enthielt, ist mir klar.
Es freut mich wirklich, daß Ich Dich diesbezüglich anscheinend nicht überschätzt habe (was weder schleimerisch noch zynisch o.ä. gemeint ist, sondern genauso, wie es hier steht).
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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Amimatani »

Ich hat geschrieben: Trotzdem noch eine kleine Nebenfrage: Was verstehst Du genau unter "Psycho-Eso-Umfeld"?.
Ein ungenauer Begriff kann nichts Genaues beschreiben. ;-) Und du brauchst dich da ja auch nicht hinzurechnen, wenn ich dir meine Skizze davon hier gebe: gemeint war jenes gesellschaftliche Phänomen, das parallel zu den genannten Strömungen (s. vorige Beiträge) in der Geschichte auftauchte und sich dadurch auszeichnete, die Lösung der großen und kleinen Probleme durch psychologisch-esoterische Innenschau zu finden und mittlerweile ebenfalls durch die Mechanismen von Kommerz und/oder Internet in dem großen Strom der Nivellierung aufgegangen ist.

<Achtung! Gefühlserinnerungsmodus=on>
Die Orte, an denen sachlich-intellektuelle Äußerungen gekontert wurden mit z.B. "verkopft" oder "für Diskussionen im Elfenbeinturm bin ich zu frei" oder "da fehlt mir das Gefühl", um im nächsten Atemzug auf emotionale Äußerungen zu reagieren mit "du machst dich zum Opfer" oder bei Aggression "das ist der Vater" oder "das sind keine Gefühle, sondern Stimmungen, Launen" usw. usf.. Die Liste der Beispiele ist beliebig verlängerbar, ich stopp das besser.
Kurz: die Bereiche, in denen Emotionen als Mittel der Individualpolitik eingesetzt wurden und werden.
<Gefühlserinnerungsmodus=off>
:lala:
Da hatte es die frühe Frauenbewegung einfacher: es gab nur zwei mögliche Entgegnungen. Auf Sachlich-Intellektuelles: unweiblich, auf Emotionales: unsachlich. :D

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Re: bewusste und unbewusste Urteile

Beitrag von Ich »

Amimatani hat geschrieben:Und du brauchst dich da ja auch nicht hinzurechnen, wenn ich dir meine Skizze davon hier gebe ...
Ah, verstehe. Keine Angst, tue Ich nicht. :D
Amimatani hat geschrieben:Auf Sachlich-Intellektuelles: unweiblich, auf Emotionales: unsachlich.
Tja, Frauen halt. >:->
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