Man findet Hildegards Aufzeichnungen online bei der DFG im Riesenkodex :
http://dfg-viewer.de/show/?set[zoom]=mi ... mets17.xml
Hildegards Bezeichnung der Sprache als Lingua Ignota, ist aus der Berufungsgeschichte des Propheten Ezechiel entnommen. Dort wird geschildert, wie Gott seinen Propheten auffordert, eine Buchrolle mit der Aufschrift „Klage und Seufzen und Weh“ zu essen. Danach wird Ezechiel zum Hause Israel entsendet. Ezechiel spricht eigentlich eine seinem Publikum unbekannte Sprache (lingua ignota), dieses ist nun aber in der Lage die Botschaft des Propheten akkustisch zu vernehmen und semantisch zu verstehen.
Während die henochische Sprache dem Dialog mit den Schöpfungskräften dient (nach Kelly ist es die Sprache in der Gott mit den Engeln kommuniziert, in der Henochischen Magie wird über „Rufe“ Kontakt zu Engeln/Wächtern aufgebaut), soll die Lingua Ignota dafür geeignet sein, in den absoluten Bedeutungsinhalt der Wörter einzudringen.
Gemeint ist jener Bedeutungsinhalt, so wie er in der reinen Erkenntnis Adams und in den von ihm geformten Wörtern zum Ausdruck kam. Dieser Bedeutungsinhalt soll akkustisch, semantisch und graphisch artikulierbar gemacht werden. Dadurch ist es möglich unabhängig vom nationalsprachlichen Ausgangspunkt her in den schöpfungstheologisch reinen, überall identischen Sinnkern der Wörter einzudringen, sich von ihnen prägen zu lassen und sie im sprachlichen Geschehen weiterzuvermitteln.
So könnte die Lingua Ignota als Versuch betrachtet werden eine Art paradiesischer Ursprache zu rekonstruieren, wie sie vor der babylonischen Sprachverwirrung gepflegt wurde. Hildegard interessiert sich dabei nicht für die historische Entwicklung der Sprachen oder ihre heilsgeschichtlich bedingte Prävalenz. Was sie interessiert, ist die kreative Potenz des gottnahen paradiesischen Sprechens und die Annährung an das Paradies durch das Mittel der Sprache.
Gen1,26 hat geschrieben: Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.
Gott gibt dem Menschen Macht über die Schöpfung, indem er ihm die „wahren Namen“ des Geschaffenen verrät.Gen 2,19 hat geschrieben: Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen.
Versucht man einmal von der christlichen Interpretation zu abstrahieren, so bleibt von der Geschichte die Aneignung des Geschaffenen durch Kenntnis des „wahren Namens“, und man kann darüber spekulieren, ob jener Name den der „Baum der Erkenntnis“ verrät der des Menschen selbst oder der wahre Name Gottes ist, oder ob das nicht eh auf das Selbe hinausläuft.
Die henochische Sprache dient der Kommunikation mit den Schöpfungskräften, die „Lingua Ignota“ dient der Aneignung des Geschaffenen, ich denke beide „Sprachen“ sind Teile des Ganzen und ich werde die nächsten Wochen mit der Kombination von beidem experimentieren.
Falls schon jemand Erfahrung damit gemacht hat, oder jetzt Lust bekommen hat ebenfalls mit der Kombination zu experimentieren, würden mich die Resultate interessieren.
Litterae Ignota:

Weiterführende Bücher:
Sarah L. Higley: Hildegard of Bingen s Unknown Language scribd amazon
Michael Embach: Die Schriften Hildegards von Bingen: Studien zu ihrer Überlieferung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit amazon
Noch ein paar interessante Links dazu:
http://www.unmasqued.com/eclecticify/ignota.php
http://www.rickharrison.com/language/ignota.html