Funktion des Mythos in der kubanischen Kultur

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Lestat de Lioncour
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Funktion des Mythos in der kubanischen Kultur

Beitrag von Lestat de Lioncour »

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Die Funktion des Mythos in der kubanischen Kultur
Der Mythos in der kubanischen Kultur geht fast vollständig auf den aus Afrika stammenden, von Sklaven eingeführten Mythos zurück. Er bewahrt sich in den Religionen der einzelnen Volksgruppen, die durch den Sklavenhandel auf die Insel verschleppt wurden und für immer dort ansässig blieben. Genährt und weiterentwickelt hat ihn die vom Plantagensystem hervorgebrachte Keimzelle der Gesellschaft - die Zuckerrohrmühle.
Ziel jeder Mythologie ist es, Herkunft und Werdegang einer Gruppe miteinander verwandter Götter in Form eines Pantheons darzustellen. Das gilt besonders für die afrokubanischen Mythen. Die Abenteuer, alltäglichen Ereignisse und Feste der Gottheiten, ihre geschwisterlichen oder geschlechtlichen Beziehungen untereinander, Krieg und andere Konflikte verlangen nach ritueller Erläuterung, nach einer Erläuterung, die sowohl religiös als auch gesellschaftlich gedeutet werden kann. Auf der gesamten kubanischen Insel werden also Religionen praktiziert, deren mythologischen Wurzeln in Afrika liegen, sich aber inzwischen zu einer eigenen Mythenform akklimatisiert haben. Das gilt sowohl für die Abakuá-Gesellschaft wie auch für die Arará oder die Yoruba, deren Mythenform unter dem Namen Pwataki bekannt sind und große Popularität errungen haben. Jene Mythen konnten sich als einfache Geschichten auf der ganzen Insel verbreiten, denn das Volk erzählt sie aufgrund ihrer zahlreichen profanen und alltäglichen Züge mit erstaunlicher Natürlichkeit.
Auf diese Weise werden selbst die esoterischsten Mythen allmählich bekannt und beliebt und nehmen dabei weltliche Elemente auf. Nach und nach verlieren sie ihren religiösen Kern, und ohne ihre Kraft und ursprüngliche Schönheit einzubüßen, werden sie zu allgemein geschätzten volkstümlichen Geschichten von manchmal recht praktischem Nutzen. Denn neben ihrer religiösen Bedeutung dienen die Mythen dem Volk zur praktischen Anwendung, anhand deren sich vielerlei Dinge des alltäglichen Lebens erklären lassen. Gestalten wie der als Gott des Feuers und der Blitze bekannte Changó und Ochún, die Göttin der Liebe und des Goldes, werden mit realen, lebenden Menschen unserer Gesellschaft gleichgesetzt und fungieren als Modell, um Persöhnlichkeiten und Charaktere zu bestimmen.
Daneben gibt es Sagen über Themen wie Tod oder Arbeit sowie Fabeln und Erzählungen mit mythischen Aspekten und über göttliches Zutun. Ihr größter Teil stammt aus dem Yoruba-Erbe, und sie bieten einen sehr repräsentativen Überblick der mündlichen Tradition Kubas.
In ihnen zeigen sich merkwürdige Erscheinungen des Kulturwandels, so zum Beispiel, wenn einem Gott das Amt eines Sekretärs des Obersten Gerichtshofs oder einen Feuerwehrhauptmanns zugeschrieben wird.
Die Kenntnis dieser Mythen trägt wesentlich zum Verständnis der Denkweise bei, die in der sich zu diesen Kulten bekennenden kubanischen Bevölkerung vorherscht.
Mit ihrer Hilfe kann man in die Geheimnisse der Wahrsagung eindringen, für die der Mythos eine unentbehrliche Ergänzung darstellt. Denn es ist offensichtlich, daß sich alle in den afokubanischen Religionen benutzen Wahrsagesysteme auf eine vielgestaltige mythische Grundlage stützen. So etwa setzt jedes Zeichen oder jede Formel, ob sie nun dem System der Kokosstücke oder der Ifá-Tafel angehören - Ifá ist der Wahrsagegott -, eine oder mehrere Geschichten bzw. Pwatakis voraus, welche dem Ratsuchenden erklären, warum er diese oder jene magische "Arbeit" verrichten oder sich zu einer bestimmten Tat entschließen muß. Die Protagonisten sind in beinahe allen Fällen die Götter selbst. So können Elegguá wie auch Olofi oder Yemayá mit ihrem Beispiel ein zu befolgendes Verhaltensmuster oder einen sofort auszuführenden körperlichen und geistigen Akt vorschreiben. Andere Geschichten sollen den Ratsuchenden tadeln, warnen oder ermahnen. In einer solchen Geschichte lesen wir etwa: " Ifá sagt, daß die Barmherzige Jungfrau (Ochún) Sie verfolge, und wenn Sie noch kein Kind bekommen haben, so deshalb, weil sie es nicht wollte, aber Sie sollen eins bekommen. Sie müssen für das einstehen, was sie gelobt haben, und Sie müssen Orula empfangen, damit all jene, die ihn nicht achten wollten, nun dazu gezwungen sind." Wie dieser Pwataki regeln auch viele andere beispielhafte Geschichten das menschliche Miteinander.
So mangelt es nicht an Fällen, in denen sowohl Naturkräfte (wie Blitz oder Sturm) als auch Tiere (wie Hund und Schildkröte) aktiv in den Lauf der mythischen Handlung eingreifen."Changó hat den Blitz in Oggúns Schmiede geschleudert." - " Der Blitzschlag zerschlägt das Gefängnisgitter, und Changó kommt heraus." - " Babalú Aýe läuft mit seinen Hunden durch den Wald. Ohne sie geht er nicht aus dem Haus." - "Aus dem Kopf der Schildkröte wird Osain geboren."
Die Gläubigen müssen sich nicht in Spekulationen vertiefen, um die Gültigkeit des Mythos zu bestätigen. Auf ihre natürliche und direkte Weise erkennen sie dessen Wert als unzweifelhaft an. "Die Dinge sind so, weil sie so sind, weil sie nun einmal so sind." - "Changó war König, weil er eben König war." - " Und pausenlos schildern sie wie jemand, der ein unbedeutendes Alltagserlebnis erzählt, unglaubliche, phantastische und übernatührliche Begebenheiten.So heißt es etwa, wenn es donnere, sei das, weil die Heiligen im Himmel gerade die Möbel hin - und herrollen. Oder daß es das Brüllen Changós sei, der in Wut gerate. Die Meeresstrudel, Stürme und Schiffsbrüche sind für einen Santero willkürliche Handlungen der Meeresgöttin Yemayá. Und wie diese gibt es viele weitere Beispiele für den phantasiereichen Volksglauben.
Das Auffallende an den folgerichtigen Akkulturationsprozessen dieser Mythen ist die Art und Weise ihrer Adaption an die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse. Jeder einzelne der in Kuba verbreiteten afrikanischen Mythen hat sich der Welt angepaßt, in die er eingegangen ist.
Sie haben Elemente aufgenommen, die für ihre Integration in die kubanische Gesellschaft notwendig waren, und sie sind in beträchtlichem Umfang von der westlichen Welt beeinflusst worden.
Wenn Ochún ihre Wäsche in Afrika auf den Steinen eines Flusses wäscht, so wäscht sie sie auf Kuba in einem Bottich und benutzt danach - warum nicht? - ein elektrisches Bügeleisen. Das gleiche gilt für Oggún, den Gott des Eisens und des Krieges, der in Kuba außerdem der Beschützer der Mechaniker, Eisenbahner, Lastwagenfahrer und alljener ist, die mit Metallen, insbesondere mit Eisen, zu tun haben. Hierin liegt der wahrscheinlich eigentümlichste Wesenszug der afrokubanischen Mythologie, und gewiß veranschaulicht er das Vermögen der Volksphantasie, mythische Elemente ersetzen und philosophische Inhalte neuen gesellschaftlichen Situationen angleichen zu können.
Vom faszinierenden mythischen Thema der Blutschande beispielsweise existieren die verschiedensten mündlichen Überlieferungen. Manchmal tritt der Inzest als ganz natürliches Ereignis auf, wie etwa wenn Changó mit seiner Mutter Yemayá schläft. In anderen Erzählversionen kommt es gar nicht zur Inzestsituation:
Aggayú, der Herr des Flusses, hatte ein Liebesverhältnis mit Yemayá. Aggayú und Yemayá waren die Eltern Changós.
Doch Yemayá ließ Changó im Stich, und Obbatalá nahm ihn auf und erzog ihn. Da sie ihn als Sohn anerkannte, legte sie ihm eine weiße und granatrote Halskette um; sie sagte, er werde König der Welt sein, und sie errichtete ihm eine Burg. So kam es, daß Changó, bis er zum Mann wurde, nicht wußte, daß Yemayá seine wahre Mutter und Aggayú sein Vater war. Ohne zu ahnen, daß er der Sohn Yemayás war, wollte er sie zur Frau nehmen. Ein Sklave, der Changó überall hin folgte, warnte Yemayá, und diese sagte ihm, anstatt die Sünde zu begehen:
" Omo mi." (mein Sohn ) "Ich habe keine Mutter", entgegnete Changó. Da antwortete ihm Yemayá: " Lubbeo", (Herschertitel Changós), und sie bot ihm die Brust. Nun erkannte Changó seine Mutter und brach in Tränen aus.
Auch in der Region Mina wird die Geschichte von der Liebe zwischen Mutter und Sohn erzählt, und auch in dieser Version begeht Yemayá keine Blutschande, vielmehr erteilt sie ihrem Sohn eine gute Lehre:
Alafi (Changó) kam ins Land Yemayás, und er umwarb sie auf einem Fest, ohne zu wissen, daß sie seine Mutter war. Yemayá sagte ihm, daß auch sie ihn liebe und das er sie in ihrem Haus besuchen solle.
" Diese große blaue Fläche, die du dort in der Ferne siehst, ist mein Haus", sagte sie und zeigte ihm das Meer.
"Müssen wir dorthin ? Ich kann nicht schwimmen, aber wenn du mich mitnimmst, komme ich ".
Sie gelangtem zum Ufer.
"Wir müssen weiter hinaus".
" Ich kann nicht schwimmen", wiederholte Changó.
Yemayá sprang in ihr Boot, ließ Changó einsteigen und ruderte aufs offene Meer hinaus. Die Küste geriet außer Sicht. Yemayá stürtze sich aus dem Boot und tauchte zum Meeresgrund; als sie untersank, kippte eine sehr hohe Welle das Boot um, und Changó fiel ins Wasser. Er hielt sich am Bootsrand fest und wehrte sich gegen das Ertrinken. Yemayá kehrte an die Oberfläche zurück und sah, in welch verzweifelter Lage sich Changó befand, der laut um Hilfe rief. Sie aber lachte seelenruhig über ihn, ohne ihm zu helfen.
Da kam Obbatalá, deren Füße sich auf die Maja-Schlange stürtzten, und sagte: " Adyaguá Orissaego". ("Yemayá, laß deinen Sohn nicht sterben.)
Yemayá antwortete: " Alakkata Oni feba Orissa Neghwa".
(Ich rette dich, aber achte fortan deine Iyá (Mutter)".) - "Cofieddano, lyá mi." ("Danke, meine Mutter.) - "Ich wußte nicht, daß es meine Mutter war."
Yemayá richtete das Boot auf und half Changó beim Einsteigen.
Nun fragte Changó die beiden Heiligen:
"Wer von euch beiden hat mich auf die Welt gebracht?"
"Yemayá, sagte die gnadenreiche Jungfrau."Ich habe dich behütet, aber sie hat dich geboren."
Changó und Yemayá umarmten sich auf dem Meer. Changó, der sagt, nach Gott gebe es nichts Heiligeres als ihn, demütigt sich vor seinen Müttern, wenn die Batá-Trommeln ertönen und diese beiden Heiligen herabsteigen. Er achtet sie beide, und die zwei besänftigen ihn, wenn er sich ereifert.

Diese pikanten Themen werden mit einer gewissen Zurückhaltung von den alten Griots in Kuba erzählt.
Mit etwas Geduld und Einfühlsvermögen ist es jedoch möglich, ihren mündlichen Berichten die vielfältigsten Mythen, die unvorstellbarsten Varianten wie auch die klassischen Stoffe zu entnehmen. Um Vergleiche mit den Visionen anderer Kulturen anstellen und Ähnlichkeiten mit ihnen ermitteln zu können, muß man die Geschichten und Mythen aller Weltreligionen natürlich gründlich kennen. Fundiertes geschichtliches und ethnologisches Wissen sind hilfreich, doch schon allein mit aufmerksamen Blick lassen sich Ähnlichkeiten bei solchen Themen wie der Erschaffung der Welt, dem Tod, der Vergötlichung der Könige usw. erkennen.
Auf Kuba sind diese Themen reichlich vorhanden;
Themen, die von einem anderen Kontinent kamen, als die Sklaven unter Peitschenhieben verschleppt wurden und Ozeane überqueren mußten. In den Mythen, Sagen, volkstümlichen Erzählungen und phantastischen Geschichten haben sich auf Kuba fortgepflanzt, im geistigen Erbgut des Volkes, dem "Quellgrund der afrikanischen Religionen"
Sie haben sich gewandelt und einen andersartigen Lebenssaft gewonnen, der den Baum der kubanischen Kultur zu immer neuer Blüte bringt.

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Zuletzt geändert von Lestat de Lioncour am 16. Aug 2007 23:35, insgesamt 2-mal geändert.
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Beitrag von Andromalius »

*lächelt* wie wahr, wie wahr.
Immer wenn man meint das man Recht hat, sollte man sich fragen ob es ein "Recht" überhaupt gibt.