Zweite Vorbemerkung: wer sich die Graphik des kabbalistischen Baumes parallel zu diesem Text ansieht, sieht darin die Linien oder Pfade, welche die einzelnen Sephira (Zahlen, Punkte) miteinander verbinden. Obwohl ich an der einen oder anderen Stelle auch diese Pfade mit einbeziehe, beschränke ich die Beschreibung auf die 10 Sephiroth (Zahlen im Baum, Knotenpunkte). Die Pfade sind z.B. wichtig wegen der Erreichbarkeit der "Punkte" im Baum. Dies ist vor allem für die 3, 2 und 1 interessant.
Obwohl mir klar ist, dass diese Beiträge wohl nur von sehr wenigen gelesen werden, vielleicht nur irgendwann über die Suchfunktion gefunden, werde ich deshalb noch einen 3. Beitrag zur Sonderrolle von Tiphareth (6) und den daraus in die obere Triade (3, 2, 1) führenden Wege schreiben.
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Im ersten Beitrag war ich bis zur 6 (Tiphareth) gekommen und hatte diesen Ort charakterisiert als den Ort des Eingebundenseins in einen größeren Zusammenhang. Der Einzelne ist "Teil von etwas Größerem" und erlebt sich selbst und sein Wirken als etwas, was dieses Gesamtsystem erhält.
Was dieses Größere genau ist, spielt für den Charakter von Tiphareth keine so große Rolle: für den einen mag das die Paarbeziehung sein, für andere die Familie oder die Gesellschaft oder die Firma, in der man arbeitet oder der naturgeschichtliche Gesamtprozess oder die Kultur oder die Erde als Ökosystem oder die Natur oder eine Sekte oder ein Orden oder der Kosmos oder oder oder.
Manchen der Menschen in der 6 reicht es nun nicht aus, einfach als Teil mitzuwirken und dabei scheinbar irgendwelchen Mechanismen zu dienen oder zu folgen, die sie gar nicht so genau kennen. Sie möchten vielmehr selber urteilen und beurteilen, und nicht nur "Rädchen im Getriebe" sein. Mit diesem Interesse gelangen sie zur
5 (Geburah) - An diesem Ort stehen die Urteile der praktischen Vernunft im Vordergrund, Regeln und die Fragen danach, wie etwas richtig oder falsch ist. Hier finden Naturwissenschaftler die Wirkungen der Naturgesetze, Sozialwissenschaftler die Wirkungen der Gesetze der Gesellschaft, Psychologen die Wirkungen der Gesetzmäßigkeiten der Psyche usw.. Hier wurzelt aber auch die Idee des Karma. Nicht zuletzt ist dies der Ort der Einhaltung moralischer und rechtlicher Normen, und damit auch ein Ort der VERurteilung, nicht nur der Beurteilung. Wer zu fest in der 5 festhängt, läuft Gefahr, in einer Schwarz-Weiß-Welt zu leben, in einer Welt, in der alles und jedes nur unter dem Aspekt "Ist es richtig oder falsch?" gesehen wird, in einer Welt, die dominiert ist von Belohnung, Lob einerseits oder Bestrafung, Ablehnung andererseits.
Mögliche Formel: "5 - So wirkt es." Mögliche Frage: "Wie funktioniert es?"
Die 5 ist also wieder ein Bereich, an welchem die Verstandeskräfte zu dominieren versuchen. Und zwar mit aller Macht ihrer Urteilsfähigkeit. Was passiert da auf der Gefühlsseite? Hokuspokus, da ist ein Wust an seltsamen, bedrohlichen Gefühlen entstanden: Schuldgefühle. Auf einmal ist es möglich geworden, Schuld zu fühlen. Eigentlich rufen sie den Reisenden, in die 4 weiter zu ziehen. Doch da es lähmende Gefühle sind, geht das nicht so direkt.
Vielmehr geschieht es auf dem Weg der Lebenskraft an sich. Denn sie ist eine Kraft, die sich jedem Versuch der Beurteilung entzieht: Leben IST. Die Lebenskraft ist weder richtig noch falsch, weder gut noch böse: sie ist einfach nur. Die Kräfte des Lebens sind eine Voraussetzung für alles andere auf dem Weg, nicht zuletzt auch für die Möglichkeit, überhaupt urteilen zu können. Der Reisende, der die 5 verlässt, indem er dem Ruf der Lebenskraft folgt mit all ihren "Grauschattierungen" zwischen Weiß und Schwarz gelangt zur
4 (Chesed) - Dies ist ein Ort, der verspricht, dass alles in ihm seinen Platz hat. Das Gute und das Böse, das Beglückende und das, was in Verzweiflung treibt. Mit anderen Worten: es ist ein Ort der "Großen Ordnung des Ganzen". Alles erfährt hier einen tieferen Sinn, eben in Bezug auf die große Ordnung. Und so könnte man die 4 auch als einen Ort der Sinngebung bezeichnen, eine Sinngebung, die nicht nur den Verstand befriedigt, sondern die mit einem tiefen Gefühl des Aufgehobenseins verbunden ist.
Mögliche Formel: "4 - Das ist sein Sinn." Mögliche Frage: "In welcher Ordnung nehme ich es wahr?"
Man merkt, dass es zwischen der 4 und der 7 eine Parallele es Fühlens gibt, wie es auch zwischen der 5 und der 8 eine Parallele des Denkens gibt. Sie liegen im Lebensbaum ja jeweils untereinander. Der Unterschied ist, das die 8 und 7 im individuellen Raum wirken, während die 5 und die 4 im kollektiven Raum angesiedelt sind.
Die magischen Ordenssysteme wie der Golden Dawn z.B. heißen den Adepten in der 4 nun direkt zur 3 zu gehen und dafür - kraft seines Willens - den Abyssos des Lebensbaums zu durchqueren. Ich persönlich halte das - mit Verlaub - für Bullshit, obwohl (oder weil?) ich diesen Weg selbst genommen habe. Zu der Frage, wie man zur 3, 2 und 1 kommt, mehr im noch folgenden Beitrag.
Überqueren wir hier also mal gedanklich den Abyssos von der 4 zur 3. Ignorieren wir für den Moment Choronzon mit seinen hundert oder wieviel Ausprägungen. Machen wir es wie in Monopoly: "Gehen Sie zur 3! Begeben Sie sich direkt dorthin! Gehen Sie nicht über Daath! Ziehen Sie keinen Wahnsinn und keine Paranoia ein!"
Man kann an dieser Stelle nochmal in Erinnerung rufen, dass der Abyssos (Abgrund) des Lebensbaumes den Bereich des individuellen und kollektiven Bewusstseins von der Welt des spirituellen Bewusstseins oder des reinen Geistes trennt. Hinter dem Abyssos befindet man sich in einem Bereich der Zeitlosigkeit, denn die Zeit wird in der 3 gerade erst geboren. Ich schmücke das jetzt nicht weiter aus, da es hier darum geht, eine praktische Kurzvorstellung der 10 Blickwinkel des Lebensbaumes zu geben.
3 (Binah) - Dies ist der Ort der grundlegenden Prinzipien, welche in allem und jedem wirken. Viele kryptische Aussagen in magischer Literatur sind Aussagen, die aus der Perspektive der 3 getroffen werden (und deshalb oft nur von dem Autor verstanden werden

Mögliche Formel: "3 - Das ist sein grundlegendes Prinzip." Mögliche Frage: "Wie kann jede Faser meines Seins es verstehen?"
Die Erfahrung des "Verstehens durch Eintauchen" in der 3 bringt einen in eine ziemlich passive Lebenserfahrung. Einerseits ist es schön, weil man in allem und jedem bekannte Formen wieder erkennt und auch alles im eigenen Leben versteht. Andererseits hat man das Gefühl, dass darüber die eigene Gestaltungskraft zu sehr geschwächt wurde. Der Wunsch, wieder in die Lage zu kommen, selber zu gestalten, etwas hervorzubringen, und zwar da, wo man jetzt ist, im Raum der reinen Geisteskräfte, bringt einen zur
2 (Chokmah) - Dies ist ein Ort der grundlegenden zündenden Ideen. Diese Geistesblitze nehmen zuweilen auch sensorisch wahrnehmbar Lichtgestalt an. (Was vermutlich mit einer Aktivität der Zirbeldrüse zu tun hat). Aus allem, was einem begegnet, werden neue grundlegende Fragen und Ideen geboren. Man kann hier gar nicht anders: jedes noch so kleine Ereignis oder Gedanke oder Beobachtung wird zum Auslöser einer Fragestellung und Ideenkaskade, welche in ihrer vollerblühten Form dann das gesamte Universum umfasst (mindestens

Mögliche Formel: "2 - Aus dieser Idee wurde es erzeugt." Mögliche Frage: Welche Frage stellt es mir?"
Wer keine Ambitionen hat, als Buddha, Jesus, Zaratustra oder ähnliches den Rest seines Daseins zu fristen und auch aus dem Jenseits weiter Ideen zu feuern, welche den ein oder anderen Sterblichen befruchten, der will irgendwann aus der 2 heraus. Rein gefühlsmäßig scheint es blöd, zu einem der bekannten Orte zurück zu gehen. Deswegen bleibt im Lebensbaum nur noch die 1.
Im Hinterkopf hat man dabei das Versprechen der magisch-kabbalistischen Lehre: "Die 1 ist in der 10 und die 10 in der 1. Kether ist in Malkuth und Malkuth in Kether."
1 (Kether) - Ich beschreibe die Stationen des Lebensbaumes hier als Blickwinkel oder Perspektiven. Die 1 nun ist diejenige Perspektive, welche alle anderen enthält UND sie zu einer Einheit, einer einheitlichen Sicht fügt. In der 1 steht nichts mehr zueinander in Widerspruch, es gibt auch keine Unterscheidung mehr, in gut und böse, richtig und falsch, männlich und weiblich, oben und unten usw. usf.. Der Mensch in der 1 erlebt nicht mehr und nicht weniger als Ganzheit, der es an nichts fehlt, eine Ganzheit, die alles was ist und sein könnte als Potential in sich enthält.
Mögliche Formel: "1 - Das eint alle seine Blickwinkel." Mögliche Frage: - (keine)
Solange der Mensch von der Lebenskraft getragen wird und hier nicht stirbt, verwandelt sich die 1 sofort wieder in die 10. Jetzt steht es dem Adepten frei, das ganze System des Lebensbaums komplett abzuschütteln und derlei Bewegungs- und Beschreibungsformen aus seinem Leben zu werfen. Wenns ihm Spaß gemacht hat, kann er oder sie von der 10 aus auch nochmal - jetzt mit mehr Erfahrung - das ganze Gesemmel von der 10 über die 9 usw. durchlaufen. Oder er macht sich an einem der Orte von 10 bis 4 sesshaft, wo er sich besonders wohl fühlte. Oder er versucht von der 1 über die 2, 3, usw. in die andere Richtung zu reisen. Oder oder. Wie auch immer: der kabbalistische Lebensbaum ist nur ein Modell unter vielen magischen Modellen.
LG
Amimatani